Ein Tag jünger

Seit unserem Flug über den Pazifik sind wir einen Tag jünger. Ich weiß nicht, ob man es sieht, aber es ist ein Fakt. Wieso? Naja, folgende Fakten: Abflug in Auckland am Samstag um 18:30, Flug nach Santiago de Chile, Flugdauer 11 Stunden. Ankunft in Santiago Samstag 17:30. So einfach wird man jünger.

So landeten wir also einen Tag jünger auf dem nächsten Kontinent, Südamerika, genauer gesagt Argentinien, noch genauer Buenos Aires. Temperatur-Unterschied 25 Grad, weil eine Hitzewelle im Land des Fußball-Weltmeisters uns 45 Grad im Schatten bescherte. Uff.

Trotzdem wollten wir die Stadt der guten Luft, das Paris des Südens kennenlernen.

Zwei Guides sollten uns dabei helfen. Interessanterweise waren beide keine Einheimischen, sondern Immigranten, was andererseits im “Land der Immigration“ Argentinien nichts Besonderes ist, sondern sogar der Normalfall. Vor der ersten großen Einwanderungswelle im 19. Jahrhundert zählte das Land gerade einmal 1,5 Millionen Menschen, erfuhren wir von Luke, unserem US-amerikanischen Guide und von Sam, unserem Führer aus Haiti, der mit uns bei einer 7-stündigen Fahrradtour alle Sehenswürdigkeiten der Stadt abklapperte. Trotz der Hitze kamen wir gut zurecht, nicht zuletzt weil wir uns in der AirBnB-Wohnung im Stadtteil Palermo Hollywood sehr wohlfühlten und uns gut erholen konnten, dank einer hervorragend eingestellten Klimaanlage. Wir konnten zum Glück auch problemlos einen Tag verlängern, nachdem ich aus Versehen zu kurz gebucht hatte.

Reichlich verwirrend fanden wir den Umgang der Argentinier mit Geld. Aufgrund der ausufernden Inflation existieren drei verschiedene Währungen parallel nebeneinander, was für uns schwer zu begreifen war. Wichtigste Erkenntnis: mit US-Dollars in cash ist jedes Problem lösbar. Zum Glück hatten wir vorgesorgt und ein paar Greenbacks in der Tasche. Tauscht man diese zu einem für den Tauschenden günstigen Kurs in Pesos um, ist in der Folge alles spottbillig. Zum Vergleich: in 2005, als Laura zum ersten Mal in Argentinien war, bekam man für einen Euro fünf Pesos. Jetzt sind es 350 Pesos. Im Gegensatz zu Neuseeland oder Australien, wo jeder Kaugummi mit Kreditkarte bezahlt wird, geht in Argentinien ohne Bargeld gar nichts. So trägt man zwangsläufig ständig ein Bündel davon mit sich herum.

Argentinische Pesos: sieht nach mehr aus als es ist

Kunst und Kreativität und Fußball

Wieder einmal hinterlassen die Orte, wo Kunst und Kreativität das Sagen haben, den nachhaltigsten Eindruck auf uns. Im alten Hafenviertel La Boca, so touristisch es auch sei, gefällt uns der von Benito Quinquela Martin initiierte Hang zur Farbe und zur Kreativität.

Da werden Farben an Hauswänden kombiniert, wie es sich sonstwo niemand trauen würde. Luke, unser amerikanischer Guide gab uns einen Crash-Kurs in argentinischer Einwanderungsgeschichte plus die dunklen Jahre der Militärdiktaturen. Die Tour endete wie sollte es anders sein so kurz nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft am Stadion der Boca Juniors. 50 Prozent der dort herumlaufenden Menschen schienen denselben Namen zu haben. Sie trugen alle ein weiß-hellblau gestreiftes Shirt mit Messi-Aufdruck am Rücken. Und das Shirt mit der Nummer 10 wurde wohl auch schon lange nicht mehr gewaschen, stattdessen 24/7 getragen 😉 Zurück zum Stadion. Seine besondere Form  hat ihm den Namen „La Bombonera“ beschert.

Manche meinen, dies heiße die Süßigkeiten-Schachtel. Andere behaupten, dies sei die Form eines Behälters, in dem früher von besonders geschultem Personal, Bosteros genannt, der Dreck von der Straße entfernt wurde. Bosteros, grob übersetzt Scheiße-Schaufler, so nennen sich heute, und zwar mit Stolz, die Fans der Boca Juniors, dem Kultclub Argentiniens, bei dem einst der, Messi hin oder her, unumstrittene Superstar, ach was sag ich, der Gott des Fußballs gespielt hat: MARADONA.  

Wer noch einen Beweis dafür nötig hatte, der bekam ihn am Tag des Endspiels der WM. Fast 40 Grad in Buenos Aires, Millionen von Menschen auf den Straßen, in den Cafés und Kneipen. Direkt nach dem epischen Sieg der Argentinier, fing es an zu regnen und kühlte um angenehme 10 Grad ab. Der Gott des Fußballs weinte Freudentränen vom Himmel.

Ansonsten besticht Buenos Aires mit jeder Menge Monumenten zu Ehren historischer Persönlichkeiten, von denen jeder zweite mit Nachnamen Martin zu heißen scheint. Außerdem Flaggen an allen Ecken und Enden. Zugegeben: Argentinien hat eine sehr schöne Flagge mit der Sonne in der Mitte, dem Hellblau des Himmels und dem Weiß, von dem manchen behaupten, es stünde für die überwiegend weiße Bevölkerung.

Buenos Aires und Argentinien

Die Bike Lanes, auf denen wir uns bewegen, sind so schmal, dass es nicht einfach so ist, Kollisionen mit dem direkt daneben verlaufenden Gegenverkehr oder dem sonstigen Verkehr zu vermeiden, aber immerhin, es gibt sie. Die Bike-Tour führte uns durch viele Stadtteile der argentinischen Hauptstadt, zum Beispiel das neue schicke Hafenviertel Puerto Madero oder San Telmo, Palermo Chico oder Belgrano. Je nach vorherrschender Bevölkerungsschicht unterscheiden sie sich natürlich sehr. Insgesamt gefällt uns Buenos Aires von seiner Anlage her ganz gut, allerdings gehört vieles saniert und in Stand gesetzt, ein Sinnbild für das ganze Land.

Vor hundert Jahren gehörte Argentinien zu den sieben lebenswertesten Nationen der Welt. Davon ist man heute weit entfernt. Gut gemeinte, aber schlecht gemachte Sozialgesetzgebung, Militär-Regimes, Korruption und Inflation haben dieses Land, das eigentlich alles hat – Bodenschätze, gutes Klima, fruchtbares Land, günstige Lage – in der oben bemühten Liste weit nach unten abfallen lassen. Manche hoffen auf die nächsten Wahlen und auf eine neue Regierung, aber der Glaube, dass dann alles besser wird, ist nicht weit verbreitet. Es bleibt der Rückzug ins Private. Man richtet sich ein, lässt es sich gut gehen und gibt das frisch verdiente Geld aus bevor es nichts mehr wert ist.

Zu später Stunde ist der Asador am Werk. Nicht selten wird das Asado erst kurz vor Mitternacht eingenommen: viel köstlich gegrilltes Fleisch und fast nix dazu. Argentinien eben!

Wer die Möglichkeit hat, zieht sich wann immer möglich aufs Land zurück und zelebriert dort das Familienleben mit viel Nichts-Tun, Mate-Trinken, Palaver und Essen, vorzugsweise Fleisch natürlich von ehemals glücklichen argentinischen Rindern, das gekonnt und geduldig auf Holzfeuer gegrillt wird. Dazu wird allenfalls ein wenig Brot oder Salat gereicht. Der Asador, der für das Grillen zuständig ist, wird mit Applaus belohnt, wenn er – und in den allermeisten Fällen handelt es sich um einen Er – seinen Job gut gemacht hat. Und schon sind alle „allegre“ = happy.

Familie, Familie, Familie

Was Familie in Argentinien bedeutet und wie sie gelebt wird, durften wir ein paar Tage hautnah miterleben, als uns unsere „argentinische Tochter“ Cami zu ein paar Tagen aufs Land, in die Pampa (wie wir sprichwörtlich sagen) einlud. In Yocanta, in der Nähe von Cordoba, besitzt die Familie ihres Freundes Jere (sprich: „Chere“) ein selbst gebautes Landhaus auf einem riesigen Grundstück, das noch vor wenigen Jahren komplett bewaldet war, dann aber einen Sturm und einen Waldbrand erlebte und deshalb jetzt freie Sicht über zig Kilometer in die umliegende Sierra bietet. Das Cottage besteht aus zwei geschickt angeordneten Metall-Containern mit viel Glas und Holz dazwischen. Cami hatte schon in einer WhatsApp-Nachricht angekündigt, dass „todo“, also alle, mitkommen würden. Dass sich dann drei Autos mit insgesamt 12 Personen auf die siebenstündige Fahrt von Esperanza nach Yocanta begeben würden, hatten wir allerdings nicht geahnt. Für den viertägigen Aufenthalt stand auch so gut wie nichts auf dem Programm außer Zeit zusammen zu verbringen, was für uns zunächst schwer zu begreifen war.

Jeder Tag begann mit unzähligen Umarmungen und danach mit einem gemeinsamen Frühstück, bei dem alle 12 um einen eigentlich zu kleinen Tisch im Kreis sitzen, sich jeder vom Tisch nimmt, was er möchte und viel geredet wird. Danach gilt es sich erst einmal zu entspannen, eventuell einen kleinen Spaziergang zu machen oder etwas zu spielen, zum Beispiel Billard auf dem zentral im Haus aufgestellten Pool-Table.

nicht so ehrgeizig, Sabbaticalist

Anschließend wird sich um die Zubereitung des Mittagessens gekümmert, wobei es sich meist um viele kleine Dinge wie Salate, Käse, Wurst, Brot handelt, die man erneut im Kreis sitzend zu sich nimmt. Anschließend heißt die Devise: Siesta. Ausruhen, schlafen, hang-around. Sobald alle wieder funktionsfähig sind, beginnt die wichtigste Zeromonie: gemeinsam Mate-Tee-trinken – am besten aus einem Strohhalm – man hat das Gefühl, dass ist der wichtigste „Klebstoff “ für die Familie. Anschließend beginnt man mit der wichtigsten  Vorbereitung des  Mahls des Tages, vorzugsweise eines Asados. Dies zieht sich meist in den späten Abend, weil das Fleisch mit unglaublicher Geduld über dem Feuer gegrillt oder gegart wird. Eventuell zwischendurch aufkommenden Hunger begegnet man mit Cerveza und/oder Chips oder ähnlichen Snacks. Nicht selten rutscht so das gemeinsame Mahl, jetzt an der großen Tafel, in die Nähe der Mitternacht. Kein Problem, wir haben ja Zeit und viel zu reden. All dies mag der Leserin befremdlich oder lustig vorkommen, mir liegt es aber fern, mich darüber lustig zu machen. Wie die Großfamilie über vier Generationen auf engem Raum über mehrere Tage miteinander umgeht, ist geprägt von Rücksichtnahme, Toleranz und Liebe. Niemand drängt sein Ego in den Vordergrund, Haushaltsjobs werden bereitwillig von jeder/jedem übernommen, individuelle Leistungen wie Kaffee-Kochen, Geschirrspülen oder Aufräumen werden öffentlich gewürdigt. Auch wenn die Kommunikation mit den meisten Familienmitgliedern verbal schwierig ist, weil unser Spanisch ganz einfach zu schlecht ist, fühlen wir uns integriert und verstanden.

Obwohl wir anfangs Bedenken hatten, wie die Zeit wohl gefüllt werden wird, wird uns mehr und mehr klar, welche Bedeutung für unsere argentinischen Freunde diese im wahrsten Sinne des Wortes Quality-Time miteinander hat und wir fühlen uns privilegiert und dankbar, dass wir dies so hautnah miterleben dürfen.

Natürlich spiegeln wir unser eigenes Familienleben zu Hause in Deutschland am Erlebten und konstatieren, dass wir keinen Grund und auch keine Legitimation haben, uns über den „argentinischen Ansatz“ lustig zu machen. Im Gegenteil. Wir können viel davon lernen und werden versuchen, ein wenig davon in unser Familienleben in Deutschland mitzunehmen.

Muchas gracias, nuestra familia in Argentina.

Muchas gracias Cami, Jere, Silvi, Turko, Todo, Renata,  Roque, Carmucha, Agu, Valentina und Benja. Und Igor.