Punkt 8:00 Uhr standen wir wie vereinbart vor den Türen unseres Hotels und warteten auf den angekündigten Driver. Um 8:30 Uhr gesellte sich noch ein schwedisch-schottisches Pärchen dazu, die auf denselben Fahrer warteten, allerdings eine halbe Stunde später angekündigt. Um 10 nach 9 kam schließlich ein in die Jahre gekommener Kleinwagen, der schon bei zwei Koffern Probleme gehabt hätte, geschweige denn bei vier erwachsenen Personen samt jeweils einem großen Reisekoffer. Die Problemlösung, wir sollten doch umpacken, nur das Nötigste mitnehmen, und die großen Koffer im Hotel deponieren lehnten wir strikt ab, auch weil wir den Veranstalter noch am Vortag über unser Gepäck informiert hatten. „No problema!“ Schließlich wurde noch ein Uber organisiert und wir fuhren mit zwei Pkws zur Bootsabfahrtsstelle am Rand von Manaus.

Ein Schnellboot setzte uns über auf die andere Seite des Amazonas, hielt auch kurz an der Stelle des Zusammentreffens des Rio Negro und des Amazonas und ließ uns das Hell-Dunkel-Spiel begutachten.

Am anderen Ufer wartete schon unser nächster Luxury-Transport auf uns: ein VW-Bully, geschätztes Baujahr 1970 mit einer leicht angerosteten Schiebetür, die aber mithilfe eines Stücks Wellpappe und Panzerband professionell getapet war. Die Fahrt über den Amazonas-Highway hat zunächst gut geklappt. Die beiden eingestürzten Brücken wurden routiniert umfahren und das Abbiegemanöver in eine ungeteerte rote Mud-Road souverän gemeistert. Erst als die Hinterachse des VW-Buses unüberhörbar zu krachen und quietschen anfing und auch ein paar ruckartige Anfahr-Versuche in beide Fahrtrichtungen keine Besserung nach sich zogen, wurde eine weitere Pause nötig. Der Fahrer montierte das Rad ab, wobei ein paar Äste aus dem Urwald das Problem des zu kleinen Wagenhebers egalisierten, und nach ein paar gezielten Schlägen mit einem Schraubenschlüssel auf die Bremsscheiben : no problemo. Die Fahrt durch die rote Matsche konnte weitergehen. Immer wenn der Fahrer eine besonders tief vermatschte Passage gemeistert hatte, bejubelte er sich selber mit gereckter rechter Faust am Rückspiegel.

Schließlich erreichten wir die letzte Umsteig-Station erreichten, wo wir erneut in ein Boot umstiegen, das uns zwar leicht überladen vorkam mit insgesamt acht erwachsenen Personen und ziemlichem Gepäck, aber immerhin blieben noch acht Zentimeter Platz zwischen Bordkante und Wasseroberfläche. Wenn die Schraube des Außenborders im Schilf steckenblieb, wurde kurzerhand zum Paddel gegriffen und sobald das Boot wieder freilag, die Schraube per Machete von den Pflanzen befreit. No problema.

Nach dieser abenteuerlichen Anfahrt hatten sich unsere Erwartungen, was die Alligator Lodge betraf, von ganz alleine auf ein Minimum heruntergeschraubt. Zum Glück, so war der Anblick der mittlerweile in Ipanema Lodge umgetauften Unterkunft – klingt ja auch weniger gefährlich und irgendwie heiterer – weniger desillusionierend. Nach den Fotos des Veranstalters auf seiner Homepage war die „Anlage“ zwar wiederzuerkennen, aber doch ziemlich heruntergekommen und kaum gewartet. Details wollen wir unseren Lesern an dieser Stelle ersparen. Nur so viel:

Eine sofortige Rückreise mit Abbruch des Amazonas Adventures schloss sich aufgrund der Abgelegenheit der Lodge aus. Wir machten also erst einmal das Beste aus der Situation, kauften uns zwei Bier und tauschten uns mit den anderen „Abenteurern“ aus Schweden/Schottland, Belgien und Holland aus. An Gesprächsstoff unter Travellern mangelt es ja nie.

Und dann war da noch James, genannt Jungle James, in militärisches Camouflage gewandet und mit sehr dominierender Stimme ausgerüstet. Er eröffnete uns die Zeitplanung für die nächsten Tage und wir beschlossen, uns erst einmal darauf einzulassen. Als er auch noch die handtellergroße Spinne an der Wand unseres Schlafzimmers ohne großen Kommentar entsorgt hatte, blieb uns nur noch die Entscheidung, ob wir die Nacht durchschwitzen wollten oder den ohrenbetäubenden Lärm der leidlich funktionierenden AirCondition ertragen wollten. Wir entschieden uns für die zeitversetzte Kombination aus den beiden Optionen, was die Nacht insgesamt auch nicht wirklich geruhsam werden ließ.

Naja, irgendwie passt man sich dann immer doch an die Situation an und versucht das Positive rauszuziehen. Und es gab auch viel Positives an unserer Amazonas-Challenge. Die Gemeinschaft unserer Mitreisenden ließ sich jedenfalls ganz spannend an und die Exkursionen mit Jungle James waren für uns neues, unerforschtes Terrain. Noch nie zuvor hatten wir das Zerren von Piranhas am Köder unserer einfachen Angelruten gespürt. Nebenbei bemerkt, zeigte sich hierbei Ingrids bisher unentdecktes Talent fürs Fischen. Piranha nach Piranha zog sie aus den trüben Wassern des Amazonas-Nebenflusses, dass es eine Freude war. Ich hatte ja schon Ähnliches vermutet. Wer mit dem Nachnamen Hecht geboren wird, dem ist das Fischejagen ins Blut gelegt, in der DNA verwurzelt, kurz angeboren.

Noch nie zuvor hatten wir Süßwasser-Delfine neben uns schwimmen sehen und noch nie zuvor waren wir durch so dichten Urwald gewandert an uns unbekannten Baumriesen vorbei, während die Stimmen von Vögeln und Affen um uns herumhallten. Wenn Jungle James dann mit einem bespucktem Grashalm in einem unscheinbaren Loch stocherte und eine ziemlich behaarte und ziemlich große Tarantel herauskrabbelte, stockte uns Dschungel-Laien der Atem. Zur Erleichterung aller suchte diese ganz schnell wieder das Dunkel ihrer Höhle auf. In der Folge streiften unsere Blicke den Boden nach ähnlichen Höhlen ab bis unser Guide beherzt in das Dickicht griff und einen kleinen Giftfrosch zwischen Daumen und Zeigefinger gefangen hielt um ihn uns zu präsentieren. Wie er diesen erspäht hatte und auch noch packen konnte, blieb uns allen ein Rätsel. Er meinte dazu nur: „Eagle-eye, without me you would see nothing here,“ womit er natürlich völlig recht hatte.

Sein größtes Kunststück packte James aber erst am dritten Tag aus. Es war schon dunkel geworden, als wir immer noch mit unserem Boot unterwegs waren. Er stand vorne wie eine Gallionsfigur und durchsuchte das Wasser und das Schilf mithilfe einer Stirnlampe, während sein Assistent, dessen Name klang wie der ehemalige Stürmer des FC Bayern Giovane Elber, das Boot steuerte. Plötzlich beugte sich James tief aus dem Boot, griff ins Schilf und reckte triumphierend einen Kaiman in die Höhe, mit festem Griff direkt hinter seinem Kopf. Das Reptil ließ mit geöffnetem Maul eine blitzsaubere Reihe von Zähnen blitzen, war aber in James festem Griff völlig erstarrt. So stieg er von vorne nach hinten durch das Boot, so dass jeder von uns Nahaufnahmen und Hautkontakt machen konnte. Anschließend entließ er den Kaiman wieder in sein Revier nicht ohne ihm noch ein „Good luck, my friend,“ mitzugeben. Eagle-Eye Jungle James hatte uns mal wieder gezeigt, was für ein toller Hecht (sorry, Ingrid) er ist. Prädikat: sehr beeindruckend.

Dschungel-Camping stand auf dem Programm. Pünktlich um 3:35 pm (James‘ Standard-Zeitangabe) standen wir (1 deutsches Pärchen, 1 belgisches, 1 holländiches, 1 schwedisch-schottisches) abfahrtbereit mit leichtem Gepäck und viel Mückenspray. Mit ins Boot kam eine große Zeltplane, 10 Hammocks (Hängematten), ein Kessel mit einem Gemisch aus Essbarem, 30 Liter Wasser und ein Cooler mit diversen Getränkedosen und Eis. So ausgerüstet legten wir ab, paddelten 30 Minuten flussabwärts und legten an. Nachdem Informationen vorab (wie immer) sehr spärlich geflossen waren, wusste niemand ganz genau, was folgen würde. Brasilianisches Motto: man muss nicht immer alles ganz genau vorab wissen. Also, alles Material auf die Schultern verteilen und Abmarsch durch den Dschungel hinter dem Machete schwingenden Jungle James her. Nach 20 Minuten hatten wir den vorgesehenen Camp-Platz erreicht, wo auch schon ein paar Dinge rudimentär vorbereitet waren. Während wir zusammen unseren Schlafplatz in Form von acht nebeneinander hängenden Hammocks vorbereiteten, zeigte uns James mehrere Möglichkeiten, aus vorhandenem Naturmaterial mit Fingerfertigkeit und Machete nützliche und/oder dekorative Dinge herzustellen: Essbehälter aus Bananenblättern, Tischoberfläche aus Palmwedeln, Fächer und Kronen für die Prinzessinnen und Königinnen des Dschungels. Elber hatte schon Feuer gemacht und bald brutzelten Würstchen und Fleisch aufgespießt um die Feuerstelle.

Soweit war alles gut, interessant, spannend, abenteuerlich. Als wir uns nach Essen, Trinken und Small Talk in unsere Hängematten begaben, blickten wir den angekündigten Nachtgeräuschen des Dschungels mit gespannter Erwartung entgegen. Allerdings wurden das Summen der Moskitos, das Pfeifen von Vögeln und das Knurren der Affen von einem dominierendem Geräusch übertönt: dem Schnarchen aus Schweden. Schnarchen ist falsch. Was der Skandinavier in 30-sekündigem Intervall von sich gab, ähnelte mehr dem Brüllen eines Löwen oder dem Röhren eines Elchs. Ich war ja schon vor vielen Jahren einmal, bei einer mittlerweile legendären Englandfahrt in den „Genuss“ mehrerer Nächte zusammen mit dominierenden Schnarchern – ich möchte hier keine Namen nennen (wer Genaueres wissen will, der wende sich an Thomas Z. aus E.) –  in einem Raum gekommen und  hatte seitdem gedacht, dies sei der Gipfel dessen, was menschliche, in diesem Fall männliche Kehlen hervorbringen können. Doch weit gefehlt. Was der Schwede, knapp 1,50 Meter neben mir, hervorstieß, ließ unsere Gefühlswelt von einem Extrem ins Nächste schwanken: erst belustigt (ungefähr fünf Minuten), dann beunruhigt, verärgert, stinksauer, fremdenfeindlich (und das mir), aggressiv, Mord nicht gänzlich ausschließend. Kurzum: die gefühlt längste und unangenehmste Nacht meines bisherigen Lebens, immerhin mehr als 60 Jahre, das macht zusammengenommen mehr als 21.900 Nächte.

Schließlich boten sich auch kaum Alternativen an, die man ansonsten bemüht, im Falle schlafloser Nächte. Aufstehen und sich kreativ beschäftigen? Aber womit und wo? Nachts im Dschungel, umgeben von Millionen Moskitos und sonstigem Getier. Es blieb also nur: aushalten und durchstehen, bis zur ersten wahrnehmbaren Helligkeit. Bauchatmen und Omm-Brummen. Aufkommende böse Gedanken vertreiben und durch bessere ersetzen. Ist schwer. Hat aber irgendwie geklappt. Das war sie also, die ultimative Jungle-Experience.

Danke Schweden.

Jungle James musste zugeben, er hätte Ähnliches auch noch nie erlebt. Ihm wäre es aber egal gewesen, weil er in diesen Nächten als verantwortlicher Guide ohnehin nicht wirklich schlafe, sondern wie eine Katze nur schlummere und immer bereit sei, falls es hieße, aktiv zu werden. Ich hätte es tatsächlich sehr befürwortet, wenn er aktiv geworden wäre, in welcher Form auch immer.